Disability Studies verstehen Behinderung als eine "soziale, historische und kulturelle Konstruktion" (https://de.wikipedia.org/wiki/Disability_Studies, Zugriff 08.08.25). Menschen mit Behinderung seien durch gesellschaftliche Barrieren an voller Teilhabe und Teilgabe gehindert und gehörten dadurch zu einer unterdrückten Minderheit. Disability Studies sind ein interdisziplinäres Forschungsfeld mit einem Schwerpunkt in den Sozialwissenschaften.
Für theologische Disability Studies zeichnet in Deutschland v.a. das Netzwerk "Dis/Ability und Theologie" verantwortlich. Mehr dazu unter https://gender.kiho-wuppertal.de/projekte/netzwerk-dis-ability-und-theologie/.
Ein hilfreiches Instrument zur Anwendung in der Verkündigung, Religionspädagogik und Seelsorge hat die Theologin Dr. Marie Hecke entwickelt, die Ansprechpartnerin des Netzwerks "Dis/Ability und Theologie": Das "Autokorrekturprogramm" für Predigten, Unterrichtsentwürfe, theologische Erklärungen u.a. soll helfen, sich selber auf die Schliche zu kommen bei der Verwendung behindertenfeindlicher Formulierungen und Auslegungen. Es fußt auf dem "Autokorrekturprogramm" des Theologen Ulrich Bach und bietet eine aktualisierte Überarbeitung. Da gerade "Blindheit" oft herhalten musste und teilweise noch muss, um Sünde, Schuld, Verblendung zu benennen, laden wir herzlich und nachdrücklich dazu ein, das Autokorrekturprogramm zu verwenden.
"Ich habe in Anlehnung an Bach neun Vorschläge für ein Autokorrekturprogramm aus intersektionaler Perspektive zu Joh 9 entworfen, diese Liste kann und sollte sicher noch ergänzt werden:
1. Habe ich Krankheiten und/oder Behinderung mit Sünde und/oder Schuld in Verbindung gebracht? (Wenn ja – löschen)
2. Habe ich den Eindruck erweckt, dass sich die Person mit Behinderung und chronischer Erkrankung nichts sehnlicher wünscht als ihre Behinderung zu „überwinden“, „geheilt zu werden“ oder sie „loszuwerden“. (Wenn ja – ergänzen: Die Wertschätzung aller Arten von physischen Körpern und nicht einen vermeintlich gesunden Körper zum Maßstab der menschlichen Perfektion erheben, ohne dabei Menschen abzusprechen, dass sie vielleicht auch den Wunsch haben, körperlich „geheilt“ zu werden)
3. Habe ich (vielleicht nur zwischen den Zeilen) „Nichtbehinderte“ und „Gemeinde“ miteinander identifiziert, ebenso „Behinderte“ und „Randgruppe“? Habe ich von sog. Normalen im Gegensatz zu Menschen mit Behinderung gepredigt? (Wenn ja – löschen)
4. Habe ich „blind“, „lahm“, „taub“ als negative Metapher für Nichtverstehen, Nichterkennen verwendet? Habe ich Jüd*innen als „blind“ bezeichnet? (Wenn ja – verändern)
5. Habe ich Behinderung und chronische Erkrankung mit negativen Begriffen von Schwere, Last, Einsamkeit und die sog. Heilung mit Leichtigkeit, Lebensfreude etc. verknüpft? (Wenn ja – löschen)
6. Habe ich Behinderung aus der guten Schöpfung ausgeklammert und/oder angezweifelt, dass sie selbstverständlich Teil der Schöpfung Gottes sind? (Wenn ja – verändern)
7. Habe ich differenziert und bewusst die verschiedenen Verständnisse/Definitionen/Modelle von Behinderung benannt und angewandt, also sowohl zwischen dem Verständnis, was Behinderung in biblischer Zeit heißen konnte, und den heutigen Verständnissen (medizinische, kulturelle, soziologische Definition etc.) unterschieden? (Wenn nicht – differenzieren)
8. Habe ich mir meine eignen Ängste und Unsicherheiten in Bezug auf meinen Körper – seine Gesundheit, Krankheit und Disability – bewusst gemacht und sie nicht unreflektiert in Predigt(text) projiziert? (Wenn nicht – bewusst machen)
9. Habe ich die Ambiguität erwähnt, ausgehalten und eingeübt, dass es mehr als einen Weg gibt, um (körperlich) vollkommen zu sein und zu glauben? Um es mit den Worten von der nicht sehenden Theologin Schumm zu sagen: „There is more than one way to be whole and holy“. (Wenn nicht – ergänzen)"
(zitiert mit freundlicher Erlaubnis der Autorin aus dem Aufsatz „'There is more than one way to be whole and holy'. Elemente einer intersektionalen Homiletik am Beispiel von Joh 9" von Marie Hecke aus dem sehr empfehlenswerten Buch "Andere Geschichten erzählen:
Ebenbildlichkeit, Heilung und die Rede von Gott in disabilitysensibler Theologie", hg. von Marie Hecke/Katharina Kammeyer/Anna Neumann, Stuttgart 2024, S. 85-86)